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„Aber es gibt nichts außerhalb der Philosophie“: Ein Gespräch zwischen Shaj Mohan und Rachel Adams

21 March 2021

„Aber es gibt nichts außerhalb der Philosophie“: Ein Gespräch zwischen Shaj Mohan und Rachel Adams
PHILOSOPHY
POLITICS

Shaj Mohan; Bildnachweis: Wikimedia Commons

In diesem Interview diskutiert Shaj Mohan mit Rachel Adams über die Möglichkeiten der Philosophie jenseits der Metaphysik und der Politik ohne Krisenrhetorik. Das Gespräch reklamiert die Vernunft als etwas, das mit Polynomia ausgestattet ist, sodass eine neue Theorie der Fakultäten entdeckt werden kann. Die Politik braucht einen Neuanfang in der Philosophie, die sich durch eine Neuinterpretation von Architektonik für Anastasis vorbereiten muss. Das Gespräch reicht von den philosophischen Begriffen des Obskuren, des umfassenden Gesetzes und der Stasis bis hin zur Klimakrise, zum technologischen Expansionismus, zu Revolution und zur Demokratie der Welt. Dieses Interview erscheint zeitgleich mit der Sonderausgabe der wissenschaftlichen Zeitschrift Episteme, welche der philosophischen Wirkung der Arbeit von Divya Dwivedi und Shaj Mohan gewidmet ist.

Rachel Adams: Es ist die Rolle des Philosophen, eine Bestandsaufnahme dessen zu machen, was wir heute sind und über unsere gegenwärtigen Bedingungen [conditions] zu reflektieren. Sie stehen an der Spitze des philosophischen Denkens und sind darüber hinaus ein Philosoph des „subalternen“ Kontinents, dem wir in Gedanken auch Südafrika hinzufügen könnten.

Wir haben Sie gebeten, mit uns darüber nachzudenken, was Ihre Neukonzeption des „Satzes vom Grund“ [the principle of reason] bedeutet und beinhalten muss. Können Sie uns sagen, was Sie mit dem „Prinzip der Vernunft“ bezeichnen und wie Sie dessen Bezug auf das Thema dieser Konferenz über „Radikale Vernunft“ sehen? (1)

Shaj Mohan: Der Satz vom Grund oder der Grundsatz erhielt seine klassische Form von Leibniz. Wie Heidegger, Michel Serres und andere beobachtet haben, wird der Grundsatz nicht immer in einer axiomatischen Weise oder in Form eines Gesetzes dargelegt. Stattdessen nimmt er mindestens drei Formen an. Erstens, die Form der grundsätzlichsten Frage: „Warum gibt es etwas?“ Zweitens, die Form des ethischen Imperativs: „Es muss ein Grund [reason] gegeben werden“ für jede Veränderung, die wir in dieser Welt vornehmen. Die dritte Form ist ein Prinzip – „alles hat einen Grund/Vernunft“ [everything has reason]. Die dritte Form ist kompliziert. Sie besagt nicht, dass alles Grund/Vernunft ist, sondern dass alles (einen) Grund/Vernunft hat.


Dann gibt es die falschen Vorstellungen bezüglich der Vernunft und des Grundsatzes. Die schlimmste identifiziert Vernunft mit Kausalität. Doch wir wissen, dass wir entweder jede kausale Ordnung mit einem impliziten Grund für sie erhalten oder wir uns gezwungen fühlen, ihr ihren Grund zu geben. Wie Hegel Leibnizens Kritikern antwortete: die Vernunft begründet die Kausalität. Der „Korrelationismus“, der heutzutage von den Theologen des maschinellen Lernens [Machine Learning] und des tiefen Lernens [Deep Learning] vertreten wird, geht noch weiter und besagt: „es gibt keine Notwendigkeit für Vernunft und Kausalität; die von Maschinen entdeckten Korrelationen alleine werden als Wissen genügen.“


Die zweite falsche Vorstellung ist, Vernunft mit Erklärung zu verwechseln. Vernunft ist nicht gleich Erklärung, denn wir wägen eine Erklärung gegen eine andere ab. Manchmal, zum Beispiel in der Physik, begründen wir diese Art der Abwägung mit bestimmten experimentellen Ergebnissen. Die Struktur einer Erklärung selbst muss untersucht werden und es müssen Gründe für sie gegeben werden. Dem hat sogar Foucault auf seine Weise zugestimmt.


Die dritte falsche Vorstellung ist gleich auch eine Methode. Es ist die Ablehnung des Grundsatzes gestützt auf den oben genannten Irrtümern und die Annahme der Autorität bestimmter anderer Gesetze, die akzeptiert bleiben, ohne dass diese einer Kritik unterzogen werden. Um ein Beispiel zu nennen: Isabelle Stengers՚ Ablehnung des Grundsatzes folgt aus ihrer Interpretation des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik. (2) Es ist zu kompliziert, um hier weiter darauf einzugehen.


Aus den oben erwähnten klassischen Formulierungen können wir bereits ersehen, dass die Vernunft mehrere Prinzipien beinhaltet, die in einer dynamischen Artikulation angeordnet sind, was sich auf die Art und Weise auswirkt, wie wir eben diese Prinzipien angeben. Mit anderen Worten: Die Vernunft kann nicht auf eine Reihe von Gesetzen beschränkt werden. Die Vernunft erfreut sich der Polynomia oder der Fähigkeit, viele Gesetze und Prinzipien zu beherbergen. Das heißt, keine Feststellung eines Grundsatzes ist auf die anderen reduzierbar. Gefahren und Fehler ergeben sich aus den Versuchen, die Vernunft funktional auf ein oder zwei Gesetze zu beschränken. Lassen Sie mich für den Moment eine neue Gruppe dieser Prinzipien auflisten, während ich die Polynomia der Vernunft respektiere.


Um Kants Vorstellung von der Aufgabe des Philosophen zu folgen: jeder Philosoph findet in der vertrauten Metaphysik „Trümmer“ [ruins] und muss diese dann nach einem neuen umfassenden Gesetz [comprehending law] aufrichten. Wenn dieses neue, umfassende Gesetz nicht die Spielereien der politischen Orientierung der ostwestlichen Art als sein inneres Milieu hat, dann wird es ein Denken hervorrufen, das Komponenten haben kann, die der Metaphysik ähneln, ohne dass es Metaphysik ist.

  1. Die Vernunft macht geltend, dass es eine Gemeinschaft gibt von allem, das ist und allem, das nicht ist. Das heißt, alles, das ist, alles, das sein kann, alles, das sein wird und alles, das nie sein wird, ist in einer Gemeinschaft.

  2. Die Vernunft offenbart, dass es Beziehungen gibt zwischen allem, das es gibt, und auch zwischen allem, das es gibt und allem, das es nicht gibt. In der klassischen Form wurden diese Beziehungen oft als Verhältnisse [ratios] ausgedrückt – die Verhältnisse zwischen Dingen, zwischen Worten und Dingen, zwischen Gedanken und Objekten des Denkens und zwischen Gott und Geschöpfen.

  3. Die Vernunft als Trieb ist nichts anderes als unser Impuls, unsere Beziehung zu allen Dingen zu finden, was auch die Beziehungen unter den Dingen impliziert sowie die Beziehung zum Nichts. Das zeigt sich in den frühesten Aussagen, die als philosophisch eingestuft werden und in neueren, wie Heideggers Meditationen über das Nichts, insbesondere im Text „Was ist Metaphysik?“

  4. Die Vernunft als Trieb wird als Verantwortung gegenüber allem erlebt; wir sind gezwungen, unsere möglichen und tatsächlichen Handlungen gegenüber allen Dingen abzuwägen. Das heißt, wir sind gezwungen, das Verhältnis [ratio] zwischen unserer Existenz und der Existenz von allem anzugeben. Um ein Beispiel zu nennen: Wir können uns nicht einfach für Lithium-Batterien entscheiden, ohne uns über die Auswirkungen des Abbaus Gedanken zu machen. Die Verantwortung der Vernunft ist unentbehrlich, um sich mit den Klimakrisen und den Krisen der demokratischen Institutionen der Welt auseinanderzusetzen.


Die Vernunft ist seit den sogenannten theoretischen Durchbrüchen der 1960er Jahre also nicht aus unserer Welt verschwunden. Stattdessen erleben wir die Vernunft heute mit maximaler Intimität in unserer gemeinsamen Besorgnis über klimatische, demografische und demokratische sowie technologische Krisen.


In diesem Zusammenhang erscheint mir Ihr Titel „radikale Vernunft“ wichtig. Für mich behauptet er, dass die Vernunft keine Radix hat. Er wendet sich gegen jegliche Vortäuschung einer Radix. Radikale Vernunft ist das Projekt, das die Versuche stört, eine Radix zu installieren, was gegen die Polynomia der Vernunft verstößt.


RA: Die kantische Kritik der Vernunft lehnt die Vernunft um der Vernunft Willen sowie die grenzenlose Rationalisierung unserer Lebensbedingungen [conditions of life] ab. Kritik spielt hier bei der Artikulation der legitimen Grenzen der Vernunft ihre Rolle: Foucault spricht von Kritik – in Kants Sinne – als dem Gericht der Vernunft. Sie sprechen in Ihrer Arbeit von Formen und Epochen der Kritik und von den Krisen, denen die aktuellen Modalitäten der Kritik, die uns zur Verfügung stehen, ausgesetzt sind. Warum gibt es viele Arten von Kritiken?


Leibniz-Rechenmachine; Bildnachweis: Wikimedia Commons

SM: Kritik ist nach dem kantischen Projekt der Untersuchung der Vernunft durch die Vernunft selbst benannt. Kant selbst sprach in juristischen Begriffen davon. Wenn wir für diesen Anlass von dort allgemeine Prinzipien übernehmen, bezieht Kritik die Konzeption eines Bereichs in Form eines Systems mit ein. Kant nannte die Kunst der Konstruktion von Systemen „Architektonik“. Ein Architektoniker kann Systeme für abstrakte Objekte, materielle Objekte, Kunst, Kultur, ein Auto, ein Spiel und Politik schaffen. Aber in all diesen Fällen hat ein solches System, das von der Kritik vorausgesetzt wird, bestimmte wesentliche Merkmale:


  1. Ein System besteht aus Variablen und Parametern, die in bestimmten Beziehungen zueinander stehen.

  2. Aus dem System ergeben sich Regelmäßigkeiten, die identifiziert werden können und denen dann Gesetze zugeschrieben werden können. Diese Gesetze des Systems erlauben uns, bestimmte Ereignisse als Unregelmäßigkeiten zu erkennen.

  3. Das System ist weiter durch diejenigen Parameter gekennzeichnet, die innerhalb des Systems invariant sind.

  4. Diese Art der Beschreibung eines Systems sagt uns auch, welche Arten von Ereignissen innerhalb des Systems möglich und welche unmöglich sind. Sie erlaubt uns auch, die Toleranzgrenzen für das betreffende System zu definieren.

  5. In materiellen Systemen definieren wir, was wir als systemintern und was als systemextern betrachten. In philosophischen Systemen gibt es diese äußere oder exogene Variable nicht. Das mag umstritten sein, aber: Es gibt nichts außerhalb der Philosophie.

  6. Dies führt zum kantischen Sinn der Kritik, der darin besteht, dass das System des kantischen Typs auf der Grundlage der primären oder erstrangigen Bedingungen [conditions] eben dieses Systems die Grenzen der möglichen Ereignisse festlegt. In der gewöhnlichen Form zeigt uns Kritik die internen Grenzen des Denkens basierend auf den Bedingungen der Möglichkeit [conditions of possibility]. Kants berühmtes Beispiel ist, dass es für die Möglichkeit des Fliegens kein Vakuum geben darf.


Wir können nun auch erkennen, dass dasselbe System nach mehr als nur einer Kritik organisiert werden kann. In den vergangenen Jahrhunderten wurde diese Möglichkeit als eine Frage der Perspektive behandelt. Aber die Gründe für diese Möglichkeit wurden nicht ausreichend erforscht. Das ist eine der Antworten auf die Frage nach den „vielen Weisen Kritik auszuüben“. Und heute denken wir nicht im kantischen Sinne über Systeme, der darin bestand, einen vereinheitlichenden Begriff [concept] für eine Mannigfaltigkeit oder für Phänomene zu finden. Aber es gibt einen anderen Weg zur Architektonik oder zur Kunst der Systeme, und ich nenne ihn Anastasis.


Die kantische Kritik ist lediglich ein „Spezialfall“ der Kritik, um ein Idiom zu verwenden, das von außerhalb des kantischen Milieus ins Denken einging. Wie wir wissen, wurden einige der Invarianten von Kants Kritik bald als Variablen erkannt. Kants Annahmen der euklidischen Geometrie und der Dreidimensionalität des Raumes wurden durch die Riemannsche Geometrie ersetzt.


Aber die Politik der Gefühle im Gegensatz zur Vernunft ist schon hier. Sowohl was wir die politische Linke wie auch die Rechte nennen teilt sie. Was noch zu tun bleibt, um den „homo sentimentalis“ einzuführen, wie es Kundera prophezeite, ist, eine neue Norm für Gefühle zu finden und dann Technologien, die sicherstellen, dass eine Regelmäßigkeit der Gefühle gemäß dieser neuen Norm etabliert wird. Davon sind wir nicht weit entfernt.

Wenn wir mit einer allgemeinen Theorie der Kritik und der Architektonik auf die Philosophie zurückblicken, können wir überall Kritik finden – auch bei Aristoteles. Auf der Grundlage dieser allgemeinen Theorie ist Kritik älter als die kantische Kritik. Nicht nur das – Kritik ist etwas, das wir alle zu jeder Zeit praktizieren. Zum Beispiel untersuchen wir vor dem Kochen einer Mahlzeit die Bedingungen [conditions] des Kochens. Diese Bedingungen existieren außerhalb der Küche und schließen die Preise und politischen Präferenzen für die Bedingungen des Kochens mit ein. Die einzige Invariante in diesem Beispiel ist der Hunger.


Kritik sollte also nicht als eine Tätigkeit der Spezialisten behandelt werden. Stattdessen sind wir alle für unsere Kritiken verantwortlich.


RA: Wo liegen in Ihrer Meinung die Grenzen unserer gegenwärtigen Kritikfähigkeit? Sie sprechen von den Grenzen der Kritik. Was bedeutet es, an der Grenze der Kritik zu sein? Und was bedeutet es insbesondere für den subalternen Kontinent, zu dessen Krisen diese vom westlichen Denken geerbten Argumentationsweisen gehören, von denen Kant ein Teil ist? Wie unterscheidet sich was Sie „Kritikalisierung“ [criticalisation] nennen von Kritik?


SM: Das ist ein interessanter Gedanke, nicht wahr? Denn Kritik ist die eigentliche philosophische Übung, die Grenzen von Systemen zu bestimmen und Sie fragen nach den Grenzen der Kritik selbst.


Kritik setzt ein bestimmtes Ethos voraus, sich gegenseitig zwischen Handlungen ein ausreichend langes Intervall zu geben. Wenn etwas Neues geschieht, sollten wir nicht mit einer Reflexhandlung darauf reagieren. Stattdessen wird von uns erwartet, dass wir uns ausreichend Zeit nehmen, um das neue Geschehen in das System der Kritik einzubringen und dann entsprechend den von der Kritik gesetzten Grenzen zu handeln. Wenn es zum Beispiel eine neue Technologie oder eine Veränderung bestehender Technologien gibt, müssen wir uns nach dem Ethos der Kritik distanzieren, uns ein Intervall geben und dann die Veränderungen der Kritik unterziehen. Wir werden dann, von unseren Erkenntnissen ausgehend, für die technische Veränderung eine neue Gesetzmäßigkeit vorschlagen, die mit der Kritik vereinbar ist.


Dieses Intervall ist die Grundvoraussetzung [fundamental condition] der Kritik, wie man in Kants politischen Schriften sehen kann. Bis Mitte des letzten Jahrhunderts konnten wir mit solchen Intervallen zwischen Veränderungen, Gesetzgebungen und Normsetzungen rechnen. Seit den 1980er Jahren sehen wir jedoch, dass diese Intervalle kürzer werden und dass Kritik seltener wird. Dies könnte der Grund sein, weshalb der größte Exponent der Kritik seit Kant seine Kritiken in der Vergangenheit und nicht der Gegenwart ansiedelte. Ich denke natürlich an Foucault.


Wir haben nun eine Grenze der Kritik festgestellt. Sollte man nun die Bestimmung der Grenzen der Kritik als Metakritik bezeichnen? Das geht nicht, denn es ist nicht einmal für diesen Akt der Bestimmung der Grenzen der Kritik ein Intervall gegeben.



Bildnachweis: Bloomsbury Philosophy

Was ich zusammen mit Divya Dwivedi seit 2007 Kritikalisierung [criticalisation] nenne, bezieht sich auf eine andere Grenze der Kritik. Wir erkannten, dass wenn ein System – sei es philosophisch oder politisch – an die Grenzen jeder seiner Komponenten und Beziehungen geführt wird, es nicht in der Lage sein wird, zu den Beziehungen zurückzukehren, die es konstituierten. Dies wird gewöhnlich als Krise erlebt. Aber Kritikalisierung ist mehr als nur das. In der Kritikalisierung funktionieren die Komponenten an ihren Grenzen und verändern sich, was sie unfähig macht, zu den vertrauten Beziehungen zurückzukehren, die von der Kritik beschrieben wurden. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Die abgenutzten Teile eines Verbrennungsmotors lassen sich nicht wieder zusammensetzen. Wir können einen anderen Motor, nicht aber eine andere Welt kaufen. Das ist die eigentliche Problematik, die den Philosophen heute beschäftigt – was kann die Kritik des Unersetzlichen sein?


Heute sehen wir diese zwei Grenzen der Kritik. Einerseits ist das Intervall, das die Kritik begründet, seltener. Andererseits werden die vertrauten Systeme der Politik, des Wissenschaftsbetriebs, der Bildungseinrichtungen und so weiter kritikalisiert [criticalised]. Sie werden in so einer Weise kritikalisiert, dass wir die vertrauten Bestandteile, die nicht mehr zu vertrauten Verhältnissen zurückkehren können, nur noch nostalgisch betrachten können. Zur gleichen Zeit haben wir überall um uns herum neue Arten von Komponenten, die neue Arten von Komponentengesetzen [componential laws] haben. Diese „kleinen Gesetze“ verändern sich mit einer Geschwindigkeit, die der Kritik nicht förderlich ist.


Wir betrachten Kritik und deren Epochen heute mit Nostalgie. Für diejenigen, die es sich leisten können, mag Kritik als Luxus verweilen, so wie es mechanische Armbanduhren und Vierradantriebe mit manueller Schaltung tun.


RA: Aber vielleicht doch auch praktischer: Was kann eine Kritik des Unersetzlichen erreichen? Ich stimme zu, dass diese Bedingung, unter der Kritik funktionieren muss, für den modernen Welt-Raum kennzeichnend ist – daher zum Beispiel Foucaults Konzentration auf eine Kritik der Vergangenheit. Aber das Bedürfnis nach ihr – das Ethos der Kritik – ist jetzt noch bedeutender. Mehr denn je brauchen wir Praktiken, durch die wir neue Möglichkeiten konzipieren und konstituieren können, die uns aus der gegenwärtigen Stasis herausführen. Spielt Kritik hier keine Rolle? Es scheint, dass Foucaults Fokus auf historische Kritik nicht notwendigerweise die Grenzen seines eigenen Denkens widerspiegelt, sondern die Grenzen der Kritik selbst als grundlegend historisiert. Wenn somit Anastasis einen radikalen Bruch im historischen System der Welt fordert, ist Kritik nicht zweckdienlich, da sie in den Formen der Vernunft der Welt verwurzelt ist, die ihre Grenze erreicht haben. So wird Kritik zu einer Form der Nostalgie, wie Sie gesagt haben. Die Frage, was wir aus der kritikalisierten Welt mit uns in das Neue nehmen, wird dann wirklich wichtig. Was ist hier Ihr Unterschied zu Kant und Foucault? Sehen Sie eine Rückkehr zur Metaphysik, die Foucault – in Anlehnung an Nietzsche – so nachdrücklich ablehnt, weil sie eine Teleologie der Menschheit beinhaltet, die Subjekte der Differenz produziert?


SM: Ich werde auf Ihre Frage zur Metaphysik antworten und dadurch auch die anderen Fragen ansprechen. Wir können nicht zur Metaphysik zurückkehren. In der Welt, die wir erleben, ist keine Rückkehr möglich. Die meisten Gesetze der Physik sind jedoch zeitinvariant. Das heißt, diese Gesetze funktionieren einwandfrei, ob wir in der Zeit zurück oder vorwärts gehen. Sie sind unabhängig von diesen temporalen Richtungen.


Was wir Metaphysik nennen hat zwei Teilprinzipien. Das erste ist etwas wie ein semiotisches Milieu, das für die Metaphysik nicht wesentlich ist. Das heißt, man kann innerhalb desselben semiotischen Milieus verschiedene Regelmäßigkeiten finden oder man kann sich in einer Beziehung befinden, die mehrere Milieus umfasst. Ein Metaphysiker kann sich die Arbeit eines anderen Metaphysikers zu eigen machen, ohne auf das Milieu des anderen einzugehen.


Die Vernunft ist seit den sogenannten theoretischen Durchbrüchen der 1960er Jahre also nicht aus unserer Welt verschwunden. Stattdessen erleben wir die Vernunft heute mit maximaler Intimität in unserer gemeinsamen Besorgnis über klimatische, demografische und demokratische sowie technologische Krisen.

Das zweite Prinzip ist, dass die Metaphysik abstrakt ist: das heißt, mit dem, was von einem bestimmten Objekt oder Milieu unabhängig ist, verhält sie sich wie die Mathematik. Das ist der Grund für die tiefgreifenden klassifikatorischen Schemata der scholastischen Philosophie, deren Ziel es war, den Grad der Realität festzulegen, den Begriffe [concepts] besitzen. Es ist nicht so, dass eine geringere oder stärkere objektive Realität einen Begriff ungültig machen könnte, sondern eher, dass alle Arten und Grade der Realität gültig sind.


Die Betonung des Milieus kam ab Hegel in die Philosophie. Heidegger gab ihr die schärfste Form, die er durch eine Interpretation der Biologie von Jakob von Uexküll gewann. Uexküll entwickelte das, was wir die Biosemiotik der Tiere nennen könnten. Seine Biosemiotik entspricht dem inneren Milieu der Tiere. Das heißt, ein Tier nimmt wahr, was ihm durch das innere Milieu gegeben ist. Dies kann man als den transzendentalen Horizont der Tiere bezeichnen. Uexküll nennt als Beispiel eine Blume auf einer Wiese, die einem Mädchen als Gegenstand, den es pflücken kann, einem Insekt als Gegenstand, in den es bohren kann, und einer Kuh als Gegenstand, den es kauen kann, erscheint. (3) Das heißt, der Sinn von Objekten ist gemäß den funktionellen Isolierungen offenbart, die durch das innere Milieu des Organismus vorgegeben sind.


Wenn wir den frühen Heidegger lesen, wo er vom „In-der-Welt-sein“ spricht, muss jeder dieser Begriffe – Welt, Sein, In-Sein – in Hinsicht auf den Begriff des menschlichen Tieres untersucht werden, den er von einer bestimmten Art der Biologie geerbt hat. Alle die sogenannten großen Philosophen, die Heidegger folgten, haben diesen Begriff des „inneren Milieus“ als Gewissheit geerbt.


RA: Und daher eine Selbsteinschränkung.


SM: Genau! Aber was ist dieses Milieu? Es ist, was er als „das Abendländische“ [the occidental] geerbt und modifiziert hat. Deshalb ist, um es mit Heidegger zu sagen, die Geschichte der Metaphysik die Geschichte des Westens.


Sowohl Heidegger als auch Derrida – und Foucault in seinem eigenen Stil – sprach von diesem internen Milieu euphemistisch als „der Tradition“. Interessant ist nun, dass von Descartes bis Kant keine Betonung einer Tradition zu finden ist. In der Tat sagt Heidegger in seinen Kant-Vorlesungen, dass Kant mit der Tradition nicht vertraut war. Ist es nicht faszinierend, dass Foucault – der Genealoge – weder die Bedingungen, unter denen das „Abendland“ in der Philosophie konstruiert wurde, noch deren Auswirkungen untersuchte?


Ihre Frage, was nach der Metaphysik kommt, muss durch diese Untersuchung der Entstehung des „Abendlandes“ hindurch gehen. Im Zuge dieser Untersuchung warte ich auf zwei Publikationen. Robert Bernasconis unveröffentlichte Arbeit über die Konstruktion des Westens in der Philosophie des 19. Jahrhunderts wird wesentlich sein, um diese Frage richtig anzugehen. Die andere Veröffentlichung ist Patrice Manigliers Forschungsarbeit über die Ethnologie der Philosophie des 20. Jahrhunderts.



Bildnachweis: Jakob von Uexküll, A Foray into the Worlds of Animals and Humans, University of Minnesota Press, 2010.

Zum zweiten Prinzip der Metaphysik, nämlich dass sie mindestens so abstrakt ist wie die Mathematik, ist es besser, Heidegger zu zitieren. Die formalen Prinzipien der Philosophie, wie sie Heidegger gefunden hat, können nicht aufgrund seiner Einbindung im „Milieu“ und in der „Tradition“ abgelehnt werden. Wie wir wissen, hat Heidegger die Metaphysik so bestimmt, dass er deren Ende ankündigen konnte. Wenn ich ein wenig spielerisch mit Heideggers Konzeption der Metaphysik umgehe, dann ist es jene Art des Denkens, die ein Teilgesetz ihres Systems so privilegiert, dass es als ihr umfassendes Gesetz das ganze System bestimmt. Das heißt, in jedem Fall, wenn die Metaphysik ein Seiendes als das Sein bestimmt, produziert sie aus sich selbst heraus eine Stasis. Jeder Fall dieser Bestimmungen des Seins ist ein gewaltiger Durchbruch im Denken. Dies sollte man nicht vergessen.


In seinem posthumen Werk Beiträge zur Philosophie spricht Heidegger von dem „anderen Anfang“, der das Werk „der Zukünftigen“ sein wird. (4) Heidegger betont, dass dieser andere Anfang weder eine Gegenkraft des „Abendlandes“ [„the West“] noch eine Nachahmung desselben sein kann. Vielmehr muss er sich der Verstrickungen der Milieus und der formalen Prinzipien der Metaphysik so bewusst sein, dass er die formalen Organe der Metaphysik so vereint, als ob es ein Ruin wäre. Um Kants Vorstellung von der Aufgabe des Philosophen zu folgen: (5) jeder Philosoph findet in der vertrauten Metaphysik „Trümmer“ [ruins] und muss diese dann nach einem neuen umfassenden Gesetz [comprehending law] aufrichten. Wenn dieses neue, umfassende Gesetz nicht die Spielereien der politischen Orientierung der ostwestlichen Art als sein inneres Milieu hat, dann wird es ein Denken hervorrufen, das Komponenten haben kann, die der Metaphysik ähneln, ohne dass es Metaphysik ist.


RA: Wie sehen Sie dann das Verhältnis zwischen Kritik, Kritikalisation und Krise? Wenn unsere gegenwärtigen globalen Bedingungen in einer Krise stecken, wie verstehen Sie die Art dieser Krise – insbesondere bezüglich des Widerstands gegen und der Überwindung von rassischer und sozialer Ungerechtigkeit (ob lokal oder global)?


SM: Wir erleben Krisen als Situation, in der wir nicht wissen, was zu tun, weil uns jede Handlung potenziell zu etwas Schlimmerem führen kann. Gleichzeitig gibt es einen Ausweg aus der Krise, wie im Fall eines Mannes, der auf der Intensivstation eines Krankenhauses liegt. Krisen werden durch das Hinzufügen und Entfernen von Komponenten, einerseits, und durch die Vorschrift neuer Gesetzmäßigkeiten [regularities], andererseits, bewältigt. In gewisser Weise ist das, wie wir in den letzten Jahren versucht haben, mit der Welt umzugehen: wir entlassen ein paar Dozenten an Universitäten und nehmen Geld aus Unternehmerprogrammen ein; wir führen Sparmaßnahmen ein und senken die Steuern für die Reichen; wir werfen Bomben mit Drohnen ab und führen Tötungslisten; wir reduzieren ein wenig die Autos in den Städten und verbrennen gleichzeitig mehr Kohle für Strom. In diesem Sinne befinden wir uns schon seit Langem in einer Krise. Wir nennen es sogar eine Dauerkrise. Doch wie kommt es, dass wir nie die adäquaten Austausche, Transplantationen und neuen Gesetzmäßigkeiten gefunden haben, um einen Weg zu einem Erholungsprozess zu finden? Es liegt daran, dass wir uns nicht in einer eigentlichen Krise befinden.


Krise ist eine unzureichende Bezeichnung dafür, wo wir heute stehen. Heutzutage werden wir kritikalisiert. Die vertrauten Bestandteile des universellen bürgerlichen Lebens, das auf der Grundlage des Marktes versprochen wird, sind abgenutzt. Die Institutionen, die das Versprechen dieses universellen bürgerlichen Lebens garantierten – die Universität, das Parlament, die Familie, die Beschäftigung in einem stabilen Milieu, Bildungskompetenz, die über Jahrzehnte reichen könnten – sind heute unzureichend. Wir agieren heute mit den Verwirrungen einer Spezies, die sich in einem neuen Milieu befindet, für das sie keine adäquaten Sinne oder Fakultäten (6) besitzt. Das heißt, aufgrund der alten Fakultäten, die wir noch mit uns herumtragen, sind wir in unserem neuen äußeren Milieu der Wahrnehmung nicht fähig. Es ist dasselbe, zu sagen, dass wir nicht wissen, was mit uns geschieht.


Anastasis ist Stasis überwinden [coming over stasis]. Anastasis impliziert, dass wir die Instrumente und Prozesse der Metaphysik nicht wiederholen. Mit Anastasis ist sowohl eine Beziehung zur Metaphysik im Sinne des Zerfalls [ruin] als auch gleichzeitig ein politisches Denken gemeint. Auf politischer Ebene, insofern dass ältere Ordnungen der Welt betroffen sind, wissen wir, dass wir kritikalisiert werden. In den neuen Ordnungen der Welt befinden wir uns in einer Stasis.

Wir haben nicht genug Zeit, um diese Frage hier aufzugreifen und dieser Zeitmangel beantwortet die Frage auch teilweise. Da ich das Wesen dieser Kritikalisierung angesprochen habe, sollte ich die Komponenten unseres neuen Milieus erwähnen. Erstens werden alle wesentlichen wirtschaftlichen und technologischen Entscheidungen global getroffen und dann mit Hilfe des Souveränitätsarguments dessen, was von den Nationalstaaten noch übrig ist, umgesetzt. Die Nationalstaaten sind lediglich noch Vollstrecker einer globalen Ordnung der Wirtschaft und Technologie. Zweitens wird Technologie gewissermaßen als Techno-Theologie akzeptiert, die von außerhalb der Ordnung der Politik agiert als etwas, das lediglich anzunehmen ist. Dies hat damit begonnen, dass die Menschen auf der ganzen Welt – ungleich, ich muss sagen – zu Datenkolonien geformt wurden. Als ich im Jahr 2010 das erste Mal über diese Datenkolonien schrieb, hatten wir noch nicht in allen Bereichen eine ausreichende Automatisierung. In Verbindung mit automatisiertem Transport, der Echtzeit-Überwachung von Personen und „Smart Homes“wird die Automatisierung eine neue Anforderung an die Menschheit stellen, nämlich dass sie sich von der Vernunft, die immer jede Radix verdrängt, entfernen soll in Richtung „Gefühlen“, die reguliert werden können, um innerhalb des neuen automatisierten sozialen Systems zu existieren.


Ich möchte nichts und niemanden speziell erwähnen. Aber die Politik der Gefühle im Gegensatz zur Vernunft ist schon hier. Sowohl was wir die politische Linke wie auch die Rechte nennen teilt sie. Was noch zu tun bleibt, um den „homo sentimentalis“ einzuführen, wie es Kundera prophezeite, ist, eine neue Norm für Gefühle zu finden und dann Technologien, die sicherstellen, dass eine Regelmäßigkeit der Gefühle gemäß dieser neuen Norm etabliert wird. Davon sind wir nicht weit entfernt.


RA: Würden Sie mit mir darüber nachdenken, ob das Wissen – oder genauer gesagt der gegenwärtige Wille zum Wissen – selbst in einer Krise steckt? Ich denke, es gibt hier auch Fragen in Bezug auf den Dogmatismus der Wissenschaft, der sich um das Dogma der Wissbarkeit [knowability], Transparenz und Klarheit dreht und der den menschlichen Vorrang vor der Welt auf problematische Weise bekräftigt. Ihre Arbeit betont „das Obskure“ als eine Klasse von Ideen. Das Obskure erscheint als philosophischer Gegenstand in Ihrem Text mit Jean-Luc Nancy, der den Titel „Our Mysterious Being“ trägt. (7) Wie könnte die Beziehung zwischen der Transparenz, die – angesichts ihrer privilegierten Stellung innerhalb des westlichen Diskurses und ihrer Erfüllung durch die Vernetzung der digitalen Technologien – als ein umfassendes Gesetz verstanden werden könnte, und dem Obskuren aussehen? Ich frage mich auch, ob wir über die Ethik des Obskuren und des Nicht-ganz-Wissbaren nachdenken könnten? Könnten wir in diesen Gebieten – die in gewisser Weise außerhalb der Reichweite der normativen und traditionellen Vernunft liegen mögen – die Praktiken der Freiheit finden, die unser philosophisches Denken – vielleicht eher ironischerweise – verständlich zu machen versucht?


SM: Ihre Arbeit über Transparenz interessiert mich. Sie stellen fest, dass Transparenz aus denjenigen extrahiert wird, die keine Macht haben, im Verborgenen zu leben. Wir wissen, dass wir nie etwas über die Privatleben der Techunternehmer unserer Welt erfahren werden, während diese uns über die Tugenden predigen, unser Leben wie ein offenes Buch zu führen. Als das, was Sie ständige „Selbstoffenbarung“ [self-disclosure] (8) nennen, ist Transparenz zugleich Kultur, Ethik, Politik, „Sicherheit“ und Ökonomie. Die Extraktion der Transparenz aus den Leuten ist heutzutage unumstritten. Zwischen Geheimhaltung und Transparenz gibt es eine Abstufung. Diese Abstufung hat eine proportionale Gliederung: Mit abnehmender Transparenz nimmt die Macht zu. Das Volk ist heute transparenter als die Herrschenden und die Techno-Kapitalisten. Wenn wir aus der proportionalen Artikulation ein Äquivalenzprinzip ableiten, dann sind die Techno-Kapitalisten unsere Machthaber.



Rachel Adams

Klarheit, die zur philosophischen Klassifikation derjenigen Ideen gehört, die in der Intuition mit all ihren Unterschieden bekannt sind, hat ein analoges Verhältnis zur Transparenz. Wenn X ein Geheimnis ist, dann kann es prinzipiell entschlüsselt und offengelegt werden. In diesem Bereich der Geheimhaltung, der Transparenz, des Whistleblowing, der verschlüsselten Kommunikationen von Aktivisten und der Gesetzgebungen für eine größere Privatsphäre wird mit Sicherheit ein wichtiges politisches Projekt verfolgt.


Aus offensichtlichen Gründen kann die Klasse der als verworren und obskur gekennzeichneten Ideen jedoch nicht in die bereits erwähnte proportionale Artikulation gebracht werden. In der Ver- und Entschlüsselung wird eine verworrene Idee verworren bleiben. Dasselbe gilt für das Obskure. Wir wissen, dass in der Politik mit großer Wirksamkeit Verwirrungen erzeugt werden können. Eine Art der Verwirrung wird von Walter Benjamin in seinem Text über Gewalt als äquivalent zur „göttlichen Gewalt“ dargestellt. Das heißt, in einer Situation, in der die politischen Unterscheidungen unklar oder verworren geworden sind, haben die Kräfte die Chance, etwas Neues zu konstituieren. Das macht das Verworrene in der Tat zu einem notwendigen Bestandteil revolutionärer Theorien.


Aber das Obskure ist etwas anderes. Es ist diese Idee, von der wir wissen, dass sie ausgeprägt ist; sie ist ausgeprägt und doch ist sie in unserer Intuition nicht gegeben. Vielmehr ist sie als das Obskure gegeben. Es gibt mehrere Beispiele aus der Geschichte, wo obskure Klassen von Ideen zu finden sind, einschließlich Zeit, Sein, Vernunft, Liebe, Freiheit und so weiter. Es ist nicht so, dass das Obskure nur in der Philosophie auftaucht. Es erscheint eminent in der Kunst und sogar in den Wissenschaften. Das Obskure ist, viel stärker als das Verworrene, das Objekt des Triebes der Vernunft. Oder eher wird die Vernunft zu ihm getrieben. Ich denke, dass wir, abgesehen von der Weiterbeschäftigung mit der proportionalen Artikulation, die ich vorhin erwähnt habe, eine politische Praxis entlang des Verworrenen und des Obskuren erfinden sollten.


Der Text, den Sie erwähnt haben, führt ein Argument an, durch das eine obskure Erfahrung, die eine alltägliche Erfahrung ist, gemacht werden kann. Ich nenne es eine Erfahrung, um eine Distanz zu Kant herzustellen. Für Kant ist das Obskure das, was kein Objekt des Bewusstseins ist.


Da wir nicht viel Zeit haben, kann ich es wie folgt zusammenfassen: In unseren Leben erleben wir uns Ereignisse antizipierend, die oft unmerklich ablaufen. Zum Beispiel antizipieren Sie das Ende dieses Satzes während ich spreche und deshalb hören Sie zu. Das kann zu Erfüllungen, Überraschungen und Enttäuschungen führen. Aber mit dem Ende der Welt, dem völligen Verschwinden der Welt, rechnen wir nie. Uns fehlt die Fähigkeit dazu. Stattdessen gibt uns die Unmöglichkeit, vernunftgemäß so etwas zu antizipieren, die Erfahrung der Gewissheit des Fortbestehens der Welt als die intimste Erfahrung. Die Teilhabe an dieser Erfahrung ist wirklich die Gemeinschaft der Verlassenen [forsaken], die wir alle sind. Das heißt, was wir als das Alltäglichste teilen, ist die Erfahrung, deren Sinn uns verlassen hat. Diese obskure Erfahrung sollte eine Erfahrung der Verantwortung sein. Das heißt, diese alltägliche und intime Erfahrung und die Gemeinschaft des Prinzips, das wir vorhin besprochen haben, setzen einander voraus. Sie sind der eigentliche Sinn unserer Zugehörigkeit zueinander und zu dem, was wir die Welt nennen. Deshalb muss diese Erfahrung vor technologischem Überschwang und vor Ethno-Nationalismen geschützt werden.


RA: Es gibt einen ethischen Imperativ, über den wir sprechen können, sich eine Post-COVID-Welt vorzustellen, in der wir lernen, was es bedeutet, mit anderen Lebensformen und Lebewesen zu leben und unseren Planeten zu teilen. Jetzt, inmitten des Coronavirus, wo Tod und Krankheit stärker und intimer ins allgemeine Bewusstsein vordringen und dennoch, wie Sie es formuliert haben, obskur bleiben, sind wir in gewissem Sinne stärker als eine „Gemeinschaft der Verlassenen“ platziert. In Ihrer Arbeit verwenden Sie den Begriff „Fakultäten“ des 18. Jahrhunderts in einem anderen Sinn. Was sind die Fakultäten des Denkens, mit denen wir beginnen können, uns neue Welten vorzustellen und zu konstruieren?



Immanuel Kant; Bildnachweis: Wikimedia commons

SM: Fakultät ist das, womit wir wahrnehmen und handeln und in den Verzögerungen zwischen den beiden verweilen. (9) Es ist die Reihe der Fähigkeiten, durch die wir Dinge zu bedeutenden oder unbedeutenden Ganzheiten machen. Wenn „Fakultät“ als individuelle Fähigkeiten behandelt wird, dann führt das zu einer Gemeinschaft, die nicht in der Lage ist, gemeinsam zu handeln. Stattdessen setzen alle Theorien der Fakultät die Gemeinschaft der Fakultät voraus. Das heißt, das kantische Subjekt mit seinen Fakultäten ist wir alle. Dann gibt es spezifische Fakultäten. Kant hat sich diesem spezifischen Sinn der Fakultäten in einem Text namens „Der Streit der Fakultäten“ gewidmet. Das heißt, das, was wir Seminare [Departments] nennen, sind Fakultäten. Diejenigen, die wir Professoren nennen, sind Fakultäten oder Kräfte.


Wenn ich den Begriff Fakultäten verwende, setzt das kein universelles Subjekt voraus. Das ältere universelle Subjekt war von einem Milieu der Rassifizierung infiltriert und war oft mitschuldig an Rassifizierungen und Sklaverei. Das heißt, dieses universelle Subjekt war das Universelle einiger aber nicht aller Menschen.


Außerdem wurde infolge der Anfechtungen von Kants Philosophie durch die Wissenschaften das Streben nach einer Theorie der Fakultäten unterdrückt, auch wenn diese in den nachfolgenden Systemen oft vorausgesetzt wurde. So setzt zum Beispiel die Analyse von Texten das „Lesen“ als eine Fakultät voraus.


Heute ist es notwendig, dass wir eine neue Reihe von Instrumenten oder Fakultäten des Denkens konzipieren, die ausreichen würden, diese Welt zu denken. Wir können uns in dieser Welt nicht auf die Spielereien der privilegierten Fakultäten, der universellen Subjekte der privilegierten Menschen und der Wahrheit einlassen.


Stattdessen müssen wir Fakultäten ohne Bezug auf die Identität des Subjekts und auf Identität selbst konzipieren. Dieser letzte Teil über das Gesetz der Identität ist zu kompliziert. Aber es ist wichtig, sicherzustellen, dass wir die formale Organisation der Gedanken und Objekte der Metaphysik nicht wiederholen. Die Elemente eines solchen neuen Denkens der Fakultäten sind Homologie, Analogie, Funktionen und Polynomia. Homologie zeigt uns die Konstruierbarkeit in jedem einzelnen Ding. Zum Beispiel ist es leicht, sich genau dieses Zusammenkommen, in dem Sie und ich miteinander sprechen, als das erste Treffen einer politischen Bewegung vorzustellen. Oder um ein biologisches Beispiel zu geben: Die Flügel der Fledermäuse, die Flossen der Wale und unsere Unterarme sind homolog. Das heißt, diese unterschiedlichen Strukturen mit unterschiedlichen Funktionen haben einen gemeinsamen Ursprung.


Analogie ist die Fähigkeit, die es uns erlaubt, dieselbe Funktion in unterschiedlichen Strukturen oder materiellen Anordnungen zu erkennen. Wenn wir Autos mit Verbrennungsmotor und Elektroautos betrachten, scheinen sie gleich zu sein. Jedoch sind sie nomologisch verschieden, während sie in Bezug auf ihre Funktionen analog bleiben.


Heute sehen wir diese zwei Grenzen der Kritik. Einerseits ist das Intervall, das die Kritik begründet, seltener. Andererseits werden die vertrauten Systeme der Politik, des Wissenschaftsbetriebs, der Bildungseinrichtungen und so weiter kritikalisiert [criticalised]. Sie werden in so einer Weise kritikalisiert, dass wir die vertrauten Bestandteile, die nicht mehr zu vertrauten Verhältnissen zurückkehren können, nur noch nostalgisch betrachten können. Zur gleichen Zeit haben wir überall um uns herum neue Arten von Komponenten, die neue Arten von Komponentengesetzen [componential laws] haben. Diese „kleinen Gesetze“ verändern sich mit einer Geschwindigkeit, die der Kritik nicht förderlich ist.

Der Gebrauch dieser beiden Begriffe – Homologie und Analogie – abseits ihrer üblichen Verwendungen setzt einen Gedanken der Funktionen voraus. Wenn wir Funktion auf die Mathematik beschränken, sagt sie uns, dass P eine Funktion von Q ist. Wir können ihr eine praktische Interpretation geben und sagen, dass wir, um P zu erhalten, Q haben müssen. Um P zu erhalten, müssen wir Q tun.


Wie wir bei der Analogie festgestellt haben, erfordern Funktionen keine bestimmte Anordnung. Die gleiche Funktion kann durch verschiedene Anordnungen ausgeführt werden. Daher kann die Art und Weise, wie wir über Funktionen denken, formal nicht in der gleichen mathematischen Form angegeben werden. Stattdessen muss sie neu formalisiert werden.


Die Variabilität der Funktionen liegt mindestens zwischen diesen beiden, hat aber meist eine weitaus größere Bandbreite. Dieselbe Funktion kann von mehreren Anordnungen ausgeführt werden. Dieselbe Anordnung kann mehrere Funktionen ausführen. Zum Beispiel kann das Messer in einer Küche viele Funktionen ausführen, wie Schneiden, Schälen, Zerquetschen, Flaschen öffnen und so weiter. Diese Eigenschaft, die allen Dingen und Funktionen innewohnt, heißt Polynomia. Polynomia bezeichnet die Fähigkeit von Dingen, Kollektiven, Menschen und abstrakten Objekten, sich auf vielfältige Weise selbst zu regulieren [legislate].


Da diese Fähigkeiten die Variationen und Austausche von Funktionen betonen, liegt ihnen kein Prinzip der subjektiven oder objektiven Identität zugrunde. Es sind Fähigkeiten der Desorientierung, im Gegensatz zu den kantischen Fakultäten, die die richtige Orientierung des Menschen erstrebten.


Ohne eine Revolution der Fakultäten, die in der Lage wären, die Welt neu zu interpretieren und konstruieren, ist all das andere Gerede über Revolution bestenfalls tragisch.


RA: Welche Funktion hat Ihre Idee der Stasis und Anastasis an dieser Stelle?


SM: Stasis hat mehrere Bezüge. Einer davon ist als Bestimmung des Bösen. Wie wir wissen, gibt es verschiedene Vorstellungen vom Bösen. Für die antiken Völker des asiatischen Mittelmeerraumes und der umliegenden Regionen war Kakon das Böse, was in etwa „abscheulich“ [disgusting] bedeutete. Im Französischen und Deutschen wird es noch immer mit leichten Variationen so verwendet. In Sprachen der dravidischen Familie existiert es als Begriff für Erbrechen.


Mit Aristoteles wurde das Böse als Mangel aufgefasst. Zur selben Zeit bezeichnete Stasis in Griechenland ein bestimmtes politisches Problem. Verschiedene Mächte bildeten zusammen den Stadtstaat: die Kriegsherren, die Politiker, die Richter, und die Philosophen. Dies waren Mächte, die ihre eigenen Teilgesetze hatten, während sie durch eine Reihe von Gesetzen, die auf keines der Teilgesetze reduzierbar war, in einer Ordnung erfasst wurden. Wir können dasjenige Gesetz, das nicht auf die Teilgesetze reduzierbar ist und deshalb nicht beherrscht werden kann, als umfassendes Gesetz [comprehending law]bezeichnen. Stasis tritt ein, wenn eines der Teilgesetze versucht, alle anderen Teilgesetze zu bestimmen oder dominieren. Sie kann sich entweder als Wettstreit zwischen allen Komponenten ergeben oder in der Situation, dass ein Teil alle anderen dominiert und zerstört. Die einfachen Beispiele sind natürlich Totalitarismen, die immer destruktiv sind. Ich muss noch anfügen, dass Stasis in der Philosophie erst später das Böse zu bestimmen begann. Es ist zum Beispiel das Böse, verstanden als Blockade. Ein Stein, der den Fluss des Wassers in einem Kanal blockiert, wäre für Augustinus Stasis und so böse.



Hl. Augustinus in seinem Arbeitsbüro 2, Sandro Botticelli; Bildnachweis: Wikimedia Commons

Anastasis ist über Stasis kommen [coming over stasis]. Anastasis impliziert, dass wir die Instrumente und Prozesse der Metaphysik nicht wiederholen. Mit Anastasis ist sowohl eine Beziehung zur Metaphysik im Sinne des Zerfalls [ruin] als auch gleichzeitig ein politisches Denken gemeint. Auf politischer Ebene, insofern dass ältere Ordnungen der Welt betroffen sind, wissen wir, dass wir kritikalisiert werden. In den neuen Ordnungen der Welt befinden wir uns in einer Stasis. Die Komponenten der Technologie, der Wirtschaft, der populistischen Massenorganisationen und des Militärs versuchen alle das umfassende Gesetz der Welt zu sein. Wir können sehen, dass technologische Konzerne erfolgreicher darin sind, die Teilgesetze ihrer Domäne als das umfassende Gesetz der ganzen Welt darzustellen.


Auf der politischen Ebene wird Anastasis das Werk des neuen umfassenden Gesetzes sein, das die neuen und alten Komponenten dieser Welt so vereinen kann, dass wir unsere gegenwärtige Stasis überwinden.


RA: Sie haben von einer "Demokratie der Welt" gesprochen, die nach den Ereignissen von 2020 umso dringlicher erscheint. So wie ich es verstehe, sind kritische Ausgangspunkte hier die Vielzahl der globalen Krisen sowie die Beschränkungen des provinzlerischen Denkens im Umgang mit diesen Krisen. Können Sie mit uns über die aktuelle Dringlichkeit dieser Idee sprechen? Wie unterscheidet sich eine „Demokratie der Welt“ von „Weltdemokratie“? Und wie können wir über Disziplinen hinweg denken und mit Nicht-Experten denken sowie mit denen, deren Denken nicht innerhalb der Akademie formalisiert ist? Wie können wir die Gespräche demokratisieren, die notwendig sind, um den Moment der Anastasis zu produzieren?


SM: Weltdemokratie wird eine Version einer nationalen Demokratie sein, von der wir heute wissen, dass sie ein schreckliches Modell ist. Eine Demokratie der Welt wird einen anderen Ausgangspunkt brauchen.


Philosophieren heißt, die Welt zu erleben als eine Welt, die in Trümmern [ruins] ist und eine Anastasis erstrebt. Nicht viel anders verhält es sich mit der Politik; ein politisches Engagement wird aus der Erfahrung geboren, dass wir auf eine bestimmte Weise nicht weitermachen können. Anastasis impliziert, dass wir nicht auf der Basis eines idyllischen Apriori nach Lösungen suchen. Das ist wesentlich. Die Idyllen der Vergangenheit haben nie existiert. Das ist das erste, was zu beachten ist. Idyllen sind Positionen des Privilegs. Diese werden zum Beispiel von den Kritikern des Kolonialismus erhoben, im Argument, dass die Zeiten vor dem Kolonialismus besser waren. Bei Agamben finden wir eine gewisse Idylle des Ästhetikers und Gelehrten der Vergangenheit. Solche idyllischen Erfahrungen waren nur für wenige möglich und wurden durch extreme Unterdrückung aufrechterhalten. Zum Beispiel wurden die Idyllen des Sanskrit sprechenden Kunstliebhabers im vorkolonialen Subkontinent durch die älteste und schlimmste Form der Rassenunterdrückung – die Kastenordnung – ermöglicht.


Wenn ich den Begriff Fakultäten verwende, setzt das kein universelles Subjekt voraus. Das ältere universelle Subjekt war von einem Milieu der Rassifizierung infiltriert und war oft mitschuldig an Rassifizierungen und Sklaverei. Das heißt, dieses universelle Subjekt war das Universelle einiger aber nicht aller Menschen.

Stattdessen würde Anastasis miteinbeziehen, die Elemente, das Wissen, die Instrumente und die Institutionen der Welt mit neuen Fakultäten zu betrachten. Die Fakultäten sollten die Elemente der Welt als solche offenbaren, die keinem Identitätsprinzip entsprechen, jedoch als Dinge und Ereignisse, die viele andere Dinge und Ereignisse sein können. Dann werden wir in der Lage sein, als eine Demokratie der Welt gemeinsam zu denken und gemeinsam zu experimentieren, mit dem neuen umfassenden Gesetz, das die Welt wieder aufrichten kann – eine Welt, die unbekannt [unfamiliar] sein muss. Wenn wir dies tun, sollten wir die Gemeinschaft der Vernunft, begründet auf der obskuren Erfahrung, bewahren.


TRANSLATOR

Simon Trüb


 

NOTES


1. Dieses Gespräch fand am 10. Dezember 2020 im Rahmen der „Radical Reason“ Konferenz statt, die vom Human Sciences Research Council, Südafrika, organisiert wurde. Angeregt durch die Ereignisse des Jahres 2020, die Fragen rund um die Themen Leben, Wissenschaft und Rasse auf neue Weise ins Rampenlicht setzten, versucht das laufende Projekt der Radikalen Vernunft – am Horizont der Entstehung einer noch nicht ganz bestimmbaren Welt – radikales Denken, Wissenschaft, Ethik, institutionelle Arrangements und andere gemeinsame Systeme der Bewertung und des Verständnisses zu erforschen. Ziel ist es, der vollständigen Artikulation der Fragen, die wir heute stellen müssen, um die Ankunft einer gerechten und gleichberechtigten Welt zu erzeugen, Tiefe und Bedeutung zu verleihen. Weitere Informationen über die „Radical Reason“ Konferenz finden Sie unter: http://www.hsrc.ac.za/en/events/events/sfsa-2020. Das Transkript wurde für die Veröffentlichung bearbeitet und mit Referenzen ergänzt.


2. Sehen Sie Isabelle Stengers’ Power and Invention: Situating Science, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1997.


3. Jakob von Uexküll, A Foray into the Worlds of Animals and Humans, Trans. Joseph D. O’Neil, Minnesota: University of Minnesota Press, 2010.


4. Sehen Sie Martin Heidegger, Gesammtausgabe Band 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Vittorio Klosterman, 1989.


5. Sehen Sie Immanuel Kant, Vorlesungen über Logik. Teilband 2 (Gesammelte Schriften Bd. 24 2), Walter de Gruyter, 1966.


6. [Anmerkung des Übersetzers] Im Englischen „faculties“, hier übersetzt als „Fakultäten“ wie in Kants Schrift „Der Streit der Fakultäten“. Einerseits kann „faculty in Englisch als Bezeichnung für eine Abteilung oder eine Gruppe von Wissenschaften an einer Universität (z.B. „die Philosophische Fakultät“) sowie als Begriff für die Lehrkräfte einer Institution (z.B. „a faculty meeting“ ist eine Sitzung der Lehrkräfte) gebraucht werden. Andererseits hat „faculty“ auch die Bedeutung von Fähigkeit oder Vermögen (z.B. „the faculty of vision“ wäre „das Sehvermögen“ oder „die Sehfähigkeit“). Diese zwei Bedeutungen spielen in diesem Text eine Rolle und somit habe ich „faculty“ als „Fakultät“ übersetzt, auch wenn es nicht üblich ist, in Deutsch Fakultät im Sinn von Vermögen oder Fähigkeit zu brauchen.


7. Jean-Luc Nancy and Shaj Mohan, “Our Mysterious Being”, Philosophical Salon, 2020.


8. Rachel Adams, Transparency: New Trajectories in Law, New York: Routledge, 2020.


9. Sehen see die Anmerkung nummer 6.

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